_Crossmedia - wie messen?
Ganzes Referat
Referat überarbeitete Lesefassung SGKM 26. März 2009 (Studiendaten und Tabellen/Diagramme beim Autoren)
Crossmedia - wie messen?
Max
Müller
Die
NZZ beschreibt auf ihrer Online Plattform Crossmedia als die Kommunikation eines
Themas, über mehrere Kanäle in mehreren Mediengattungen zur gleichen Zeit. Die
Antwort unserer Frage „Intermedia und Crossmedia – wie messen?“ ist
deshalb: Es funktioniert nur mit Time Budget-Studien, denn nur sie können die
Aspekte „verschiedene Mediengattungen“ und „Zeit“ kontrollieren.
Jedenfalls kann Crossmedia einzig mit zeitsensiblen Studien gemessen werden,
weil einzig die Dimension der Zeit (Tagesablauf) erlaubt, Überlagerungen
festzustellen.
Vorbemerkungen
Ich
spreche hier als Medienforscher für den Bereich, der als angewandte
Publikumsforschung bekannt ist. Medienforscher denken über die grossen
Schweizer Medien- und Sozialstudien nach und realisieren diese, oder Teile
davon, im methodischen und analytischen Bereich oder führen Sekundäranalysen
durch. Angewandte Forschung produziert mit standardisierten und industriellen
Methoden Information ( die MedienforscherInnen im Medienbereich, die
SozialforscherInnen z.B. bei kontinuierlichen Bundesstudien wie der SAKE oder
dem LIK etc.). Diejenigen unter uns, die sich seit vielen viele Jahr mit Längsschnittdaten
beschäftigt, erinnern sich bestimmt an die Demut, die uns jeweils überfallt,
wenn wir die Ergebnisse unserer Analysen sehen, die niemand sonst sehen
will und die sich in deprimierender Abfolge hartnäckig wiederholen. Ich
erinnere an den Wissenskluft Effekt, den uns Prof. Heinz Bonfadelli hier an
dieser Universität vor 20 Jahren beigebracht hat, an die ebenfalls nicht
verschwindenden Schicht- und Geschlechtsspezifitäten in den Bildungsstudien
oder dem Mediennutzungsverhalten breiter Bevölkerungsschichten, das sich
erstaunlich robust und stabil zeigt.
Crossmedia
ist keine Erfindung der Neuzeit, es gibt da das berühmte Marcus Ulpius Traianus
Beispiel, dessen Ausführung ich ihnen jetzt erspare. Neueren Datums
jedoch sind die Implikationen, die heute unter dem Begriff der „Konvergenz“
diskutiert werden. Zur "Konvergenz" wurde und wird viel gesagt.
Der Diskurs hat Ende der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts begonnen und
sie kennen ihn alle. Dabei wird in der Regel zwischen „technischer
Konvergenz“ (das treibende Moment der Konvergenz), „unternehmerischer
Konvergenz“ (als Fähigkeit von Unternehmen zur strukturellen Veränderung und
Crossmedia Planung) und „qualifikatorischer Konvergenz“ (in Form von
gewandelten Qualifikationsanforderungen und Qualifikationsprofilen als
Herausforderung an die Ausbildungsstätten, z.B. das IAM, das heute angehende
JournalistInnen und UnternehmenskommunikatorInnen in einem
„Medien-Konvergenz-Raum“ ausbildet) unterschieden.
Im
wissenschaftlichen Gutachten „Zur Entwicklung der Medien in Deutschland
zwischen 1998 und 2007“ des Hans-Bredow-Institut für Medienforschung an der
Universität Hamburg findet sich bemerkenswert Neues zur „unternehmerischen“
Konvergenz, also dem durch die Digitalisierung ausgelösten Strukturwandel der
Medienwelt, der Geschäftsmodelle und der Besitzverhältnisse. Früher sprachen
wir von der „Fähigkeit von Unternehmen zur strukturellen Veränderung und
Crossmedia Planung“, heute ernten wir die Ergebnisse
("Medienkonzentration nimmt weiter zu", S. 285). Und Sie wissen ganz
genau: Mit Änderungen von Besitzverhältnissen hört in der Medienwelt der
Spass auf. Das Gutachten aus Hamburg ist etwas vom Klügsten zum Thema, das in
letzter Zeit geschrieben wurde.
Müssen wir wirklich Crossmedia messen?
Der
Ruf nach Intermedia Studien und Crossmedia Daten besteht weltweit und mit
zunehmender Dringlichkeit (Fussnote
1). Der Druck stammt aus den Reihen der neuen Cross-Sellers und der durch
konvergierende Medien und fragmentierte Märkte zunehmend in Handlungszwang
geratenen etablierten Verlage und Medienunternehmen. Es war nicht Gavin
O’Reillys, Präsident des Weltverbands der Zeitungen, der im Herbst 2008
implizit forderte, (er sprach vom Wachstumsmarkt Zeitung) sondern es war im
Anschluss an sein Referat Peter Würtenberger, der sagte, die Medienhäuser müssten
ihre Gesamtreichweiten besser vermarkten. Der Springer-Vermarktungschef forderte
eine neue crossmediale Währung und rief Marktforschung und Verbände dazu auf,
"eine Währung zu entwickeln, die crossmediale Angebote abbildet."
Die
in der Praxis tätigen Medienwissenschafter und Medienwissenschafterinnen müssen
sich deshalb mit diesen Fragestellungen beschäftigen, ob sie wollen oder nicht.
Wir wissen: In der aktuellen angewandten Medienforschung gibt es zwei Möglichkeiten,
Mehrmediennutzung zu messen und auszuweisen. Entweder werden unterschiedliche
Datenquellen fusioniert oder sämtliche Daten werden an einer Quelle erhoben.
Für
Datenfusionen gibt es Ansätze, vor allem in jüngster Zeit, die gute Ergebnisse
zeigen. Doch bei der Datenfusion oder Datenintegration besteht meiner Meinung
nach ein beträchtliches Defizit an transparenten und im Längsschnitt erprobten
Modellen. Es fehlt auch an Grundlagen- und Validierungsstudien durch theoretisch
gut geschulte Wissenschafter/Innen (da sind Sie von der SGKM an den Universitäten
gefordert, falls Sie das können, es ist nämlich ziemlich schwierig). Die WEMF
(MACH Basic) misst seit 1963 die Printmediennutzung, und der
SRG-Forschungsdienst (heute: MEDIAPULSE) seit 1975 mit der Medienstudie (MS) die
Radionutzung (ab 2001 mit dem Radiocontrol System (RC)) und seit 1986 mit dem
Telecontrol System (TC) die Fernsehnutzung. Nach dem Scheitern der ersten
gesamtschweizerischen Internetforschung (MMXI Switzerland 2001-2004), etablierte
sich unter dem Namen NET-METRIX seit 2007 eine neue Nutzungsforschung als
Verbund der beiden größten angewandten Medienforschungsinstitute (WEMF und
MEDIAPULSE) in Partnerschaft mit Nielsen NetRatings.
In
der Schweiz verhindern bis heute die verschiedenen traditionell erarbeiteten
Mediennutzungsstudien und die föderalistische Struktur des Landes eine
systematische Untersuchung von Intermedia oder Crossmedia Zusammenhängen. So
konnten bis heute weder die Intermediastudien der PUBLICA DATA, (Fusion
verschiedenartiger Datenquellen) noch die WEMF Strategy Studien (Single
Source Ansatz) die unterschiedlichen Bedürfnisse nach Validität der Messungen,
nach Anschaulichkeit der Zusammenhänge und nach Verwertbarkeit am Markt erfüllen.
Selbstverständlich existieren unterdessen auch ein grosse Anzahl von Crossmedia
Angeboten durch Vertriebs- und Marketingfirmen aller möglicher Schattierungen.
Einige behaupten tatsächlich, Tri-
oder Quadmedialer Medienkonsum planen und messen zu können. Ich erspare ihnen
die Beispiele oder die Folienschlachten mit ungenügend dokumentierten
Studienergebnissen und abenteuerlichen Hilfskonstruktionen, zu denen auch
Typologien zählen, was Sie ja alle bereits wissen.
Crossmedia messen
Zur Crossmedianutzungsmessung oder Mehrfachnutzungsmessung müssen entweder unterschiedliche Datenquellen fusioniert oder sämtliche Daten an einer Quelle erhoben werden. Dies kann mit Längsschnitt- oder mit Querschnittstudien getan werden. Nachdem die Fusionsmethode als noch zu wenig ausgereift angesehen wird, das ehrgeizige Single-Source Projekt Apollo 2008 schmählich scheiterte, (es wollte mit verschiedenen Messmethoden bei denselben Personen Crossmedia Nutzung erheben), glauben wir an die Messung von Mehrfachmediennutzung mittels einer Querschnittstudie im Time-Budget-Design, so wie das die Medienstudie 1975-2000 gemacht hat.
Wie
ist die Ausgangsituation in Bezug zur Datenlage? Sie ist in Deutschland
erfreulich. Wie liebten alle die ZUMA, die dann in die GESIS übergeführt wurde
(ob mit oder ohne Bedauern ist noch offen), jedenfalls existiert das
Medienwissenschaftliche Lehr- und Forschungszentrum MLFZ in Köln, das das
macht, was wir in der Schweiz nicht machen können. Der Zustand bei uns ist,
gelinde gesagt, lamentabel für ein Land, das derart viele
Ressourcen in die angewandte Medienforschung steckt. Einzig wir am IAM
durften letztes Jahr Medienlängsschnitte erstellen und mit den Datensätzen
experimentieren. Am Institut für Angewandte Medienwissenschaft (IAM) in
Winterthur existiert deshalb seit 2008 das einzige Medien-Längsschnitt-Archiv
(MLA) der Schweiz, das Datensätze für Längsschnittauswertungen enthält.
Diese (Single Source) Daten erlauben Intermedia und Crossmedia Analysen mit
ausreichend grossen Fallzahlen und eignen sich zur Modellbildung (Müller 2008).
Total
existieren in der Schweiz gerade zwei ernstzunehmende Time Budget Studien. Die
Alte MS und die Neue TUS. Die TUS bezeichnet sich selber als Abkömmling der MS
und steht methodisch in deren Tradition. Die von der Schweizerischen Radio- und
Fernsehgesellschaft (SRG) initiierte Medienstudie (MS) untersuchte seit 1975 das
Medienverhalten der Schweizer Bevölkerung ab 15 Jahren und stellte damit eine
der größten kontinuierlichen Längsschnittbefragungen in der Schweiz dar. Die
Studie wurde als Längsschnitt-Vergleichsstudie konzipiert. Seit 1994 wurden
aufgrund einer Gemeinderegisterauswahl so genannte
Sampling Points erfasst und in einen Masterplan übertragen. Dieses
Master Sample wurde jährlich den soziodemografischen Verhältnissen angepasst.
Im Jahresrhythmus veränderten sich auch die Senderlisten und die
Zusammensetzungen der Empfangs- und Konzessionsgebieten – vor allem im Bereich
der regionalen und privaten TV- und Radiosender.
Im folgenden Abschnitt können nur die Zwischentitel angegeben werden, da das Referat in freier Rede weitergeführt wurde. Die Argumentation sollte jedoch ersichtlich sein.
Aggregierte
Tagestätigkeiten in Minuten im
Durchschnitt pro Kopf der Bevölkerung
Aggregierte
Mediennutzung in Minuten im Durchschnitt pro Kopf der Bevölkerung
Weitere
Darstellung desselben Zusammenhangs: die Mediengattungen sind prozentuiert den
Tagestätigkeiten zugeordnet.
Und
so sieht die Visualisierung aus. Hiermit sind allerdings noch keine Crossmedia
Zusammenhänge dargestellt.
Crossmedia
sieht so aus. Hier sind sämtliche 12 Möglichkeiten crossmedialer Zusammenhänge
dargestellt.
Allerdings
ist die Grafik sehr schwer zu lesen. So stellen die drei Doppelpfeile in der
Mitte die trimediale Nutzung dar. Links unten sind die Spezialfälle aufgeführt.
Ein
Problem liegt in der Zunahme der Kombinationsmöglichkeiten bei
Mehrfachmediennutzung – und damit auch bei der Analyse und für die
Reportingsysteme.
Hier
sind die 16 Kombinationsmöglichkeiten bei Quadmedialer Mediennutzung aufgeführt.
Zusätzlich
können kombinierte Reichweiten ausgegeben werden. Sowie Angaben über die
Mehrfachmediennutzung im Time-Budget berechnet
werden.
Konklusionen
Internetnutzung
im Jahre 2006 „crossmedial“ gemessen = 11% der Schweizer und Schweizerinnen
haben es am Vortag wenigstens eine Minute genutzt (TUS 2006, damit konnte das
Web die 10% Hürde überschritten und damit „Medienforschungs“ würdig
werden, nachdem im Jahre 2000 die Vergleichszahl noch knappe 5% betrug). Die
unter der Oberfläche brodelnde
(Prof. U. Hasebrink im Einführungsvortrag), dramatische Veränderung des
Mediennutzungsverhalten bei den „Jungen“ scheint eine Form „rituellen
Unternehmens-Storytelling“ zu sein. Storytelling wird übrigens auch am IAM
gelehrt und wir haben mit Prof. Vinzenz Wyss einen anerkannten Spezialisten
unter uns. Meiner Meinung nach schwatzen in diesem Fall (der vielbeschworene
jung-alt Gap kann auch ein „normaler“ Kohorteneffekt sein) einfach alle
allen etwas nach und keiner prüft die Aussagen. In der Bildungsforschung
stellen wir solche Effekte jedenfalls nicht fest. In der Regel tut die
"Jugend" ohnehin nicht das, was wir wollen, das sie tut.
Das
Internet wird als Medium stark überbewertet. In der Finanzindustrie hatten wir
in letzter Zeit Modelle, die nicht funktioniert haben. Seien Sie so klug und
verschonen Sie uns in der Medienwelt damit, falls es nicht schon zu spät ist.
Nicht sehr vorsichtig ausgedrückt heisst das, dass die Verlagshäuser auch an
den eigenen (falschen) Strategien untergehen. Und das die Absatzeinbussen von
20%-30% zwischen 2000 und 2006 nicht wegen dem Internet passiert sind, sondern
wegen fehlerhaften Entscheidungen ignoranter Manager.
Wir
empfehlen Ihnen, in Zukunft keine Medienstudien zu akzeptieren, die nicht
methodisch sauber auch die Nichtmediennutzer aufführen (Längere methodische
Ausführung musste aus Zeitmangel
weggelassen werden).
Forschungsfragen
für die akademische Forschung: Gibt es tatsächlich eine Zunahme des
monokausalem Medienkonsums? Differenziert oder fragmentiert sich die
Mediennutzung tatsächlich? Entwickeln Sie uns diskursfähige, theoretische
Modelle, die Datenfusionen erklären und möglich machen. Legen Sie Regeln für
die Studiendokumentationen fest, d.h. machen Sie vor, wie Datenfusionen sinnvoll
dokumentiert werden können. Initiieren Sie Methodentests über die Verfahren
von Medienlängsschnittstudien und zeigen Sie uns statistische
Auswertungsstrategien, die entweder mit durchgehenden Massen oder Cross-Repeated
Verfahren möglich sind.
Dank
Die Ausführungen und Berechnungen wurden dank viel Arbeit,
Ideen, Fronarbeit, Syntaxen und Ressourcen möglich gemacht von
BAKOM, Projektpartner
Bertossa, Luca, Mediapulse
Beule, Wolfgang, Datenanalytiker
Collenberg, Adrian, Medienhistoriker
Hackbarth, Knuth, Medienforscher
IAM, Projektpartner
Klug, Stefan, Statistiker
MEDIAPULSE, Projektpartner
Rogger, Esther, Programmiererin
Thaller, Andreas, Statistiker
Belegliteratur
Collenberg, Adrian / Müller, Max. Die SRG-Medienstudie 1996-2000: Archivierung
und Erschliessung. Mediennutzung im Tagesablauf. Zürich 2009.
MS Datensatz bei Institut für Angewandte Medienwissenschaft (IAM) der Zürcher
Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) Forschung & Entwicklung.
Time-Use-Study (Bd. 1-4). Mediapulse. Bern 2007/09. Bezug bei www.mediapulse.ch
Zur Entwicklung der Medien in Deutschland zwischen 1998 und 2007. Wissenschaftliches Gutachten zum Kommunikations- und Medienbericht der Bundesregierung. Hans-Bredow-Institut für Medienforschung an der Universität Hamburg. Hamburg 2008.
Bei
Zitation bitte Quelle angeben:
Müller,
Max (2009).Crossmedia - wie messen? Zürich 2009.
Kontakt
ibsf@usa.net